(...) Unser Alltag ist ausgefüllt von verhaltensmustern, die uns Halt geben. Mein Platz in einer zivilisierten Geselschaft, meine Mitbürgerschaft leitet sich aus einem Gefüge von Vereinbarungen und Gepflogenheiten ab. Mein Tagesablauf ist durch geregelt: aufwachen, pinkeln, essen, scheißen, duschen, sich anziehen, zur Arbeit fahren, Briefe schreiben, Telefonate erledigen, Rechnungen bezahlen, Verabredungen einhalten, Kaffee trinken, pinkeln, reden, zu Mittag essen, Besorgungen machen, den Zug kriegen, heimkommen, zu Abend essen, trinken, pinkeln, sich unterhalten lassen, ficken, pinkeln, Zähne putzen, schlafen. Ich habe ein Haus, ein Obdach. Ich verlasse es morgens und kehre abends dorthin zurück: es ist da, eine mit Händen zu greifende Tatsache, durch ihre Vertrautheit nicht nur beruhigend, sondern bestärkend. Ich besitze es dank einer Vereinbarung zwischen mir, und meinem Arbeitgeber, der Bank und den Gesetzen des Landes. Ich bin ein Sammler - nicht in einem erlesenen, sondern im fundamentalen Sinne: meine Fotos, meine Kleidungstücke, meine Möbel (in dieser Ordnung), meine Bücher (in dieser Ordnung), meine Freunde und meine Lieben (in dieser Ordnung), meine im ständigen Gebrauch bequem und anschmiegsam gewordene Vorstellung vom Leben, meine Papiere, meine Arbeit, meine Vorstellung von mir selbst. Ich umgebe mich mit Dingen, stütze mich ab durch meinen Besitz, fülle meinen Raum mit Zeug aus: ich mache ihn persöhnlich, mache ihn mir vertraut, mache ihn zu dem meinen.
Ich habe so viele Bilder dafür - für diesen Status des Mitbürgers, des zivilisierten Menschen. Er erscheint mir als Netz, das mich festhält und mich nicht abstürzen lässt. Er erscheint mir als Netz, das mich festhällt und mich nicht abstürzen läßt. Er erscheint mir als Gewebe - als Geflecht einzelner, miteinander verstrickter, festgezogener Fäden, das mich warm hält und mit dem ich mich und andere umhüllen kann. Er erscheint mir als Besitztum, ein Haus, ein Gebäude, als eine Konstruktion mit Wänden, die die Kälte fernhalten, einer Tür, die Unerwünschte aussperrt, und einem Dach, das mich vor der Nacht und ihrer furchtbaren, alle Unterschiede tilgenden Dunkelheit schützt.
Aber er erscheint mir auch als Last. Er erscheint mir als Schranke, als Hindernis zwischen mir und etwas anderem, das ich nicht kenne und nicht verstehe. Er erscheint mir als Mittler, als Filter der nur bestimmte Arten von Erfahrungen durchläßt. Und mich reizen Momente, so kurz sie sind, und besonders, wenn sie kurz sind, in denen er verschwindet: wenn das Netz reißt, das Gewebe sich auflöst, das Haus brennt - die Metaphern sind beliebig. Immer geht es um diese Linie, diese Grenze: ich bin gebannt, beglückt von dem, was ich auf der anderen Seite finde. Sie erregt mich; ich kenne keine stärkere Erregung. (...)
(Bill Buford)
_________________ Der Narr ist nicht der auf dem falschen Weg, er ist der der diesen nicht sieht...
Zuletzt geändert von Ziggy am Sa 23. Mär 2013, 16:44, insgesamt 1-mal geändert.
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